Freitag, 19. Juni 2009

Mauerstücke - Leseprobe 2




Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten
Hrgs. Bettina Buske und Patricia Koelle
ISBN 978-3-939937-08-1
180 Seiten
30 Farbfotos
Vorwort Walter Momper (Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses)
Geleitwort André Schmitz (Kulturstaatssekretär von Berlin)


Leseprobe
Anne Bergmann
Jazz in Berlin



Wenn die Stille selbst schon einen gewissen Lautstärkepegel besitzt, verlieren alle Geräusche an Stärke. Das Bellen eines Hundes klingt nicht mehr so gefährlich, Stimmen verlieren sich in der Luft, und es kann passieren, ein Flüstern versickert unbemerkt.
Hier in der Stadt ist es so, da ist die Stille nicht geräuschlos. Ich weiß das, denn ich kenne den Unterschied. Ich weiß, was völlige Stille ist. Die geborenen Städter mögen das nicht einmal bemerken, wie sie die Helligkeit der Nacht nicht bemerken. Man sieht hier in der Stadt lange nicht so viele Sterne wie in Drahnsdorf. Nicht einmal die Milchstraße schält sich aus dem orange-gelben Glimmen des Nachthimmels heraus.
Ich habe sie von Anfang an vermisst, gleich nach meiner ersten Nacht in Berlin, und ich habe die Stille vermisst. Vor allem aber auch die Geräusche, denn in der Stadt sind Geräusche nichts Besonderes mehr, sie gehen unter in ihrer Masse wie die Menschen.
Manchmal nimmt man jedoch ein besonderes Geräusch wahr – wie den Fetzen einer Saxophonmelodie. Manchmal begegnet man einem besonderen Menschen, doch dann überhört man ein Flüstern.
Ich hatte eine kleine Wohnung in Pankow bezogen, in der Nähe einer Kirche, deren Glocke ich zu jeder Stunde schlagen hörte. Bald brauchte ich dadurch nicht mehr auf die Uhr zu blicken – ich musste nur genau hinhören. Ja, wenn ich genau hinhörte, konnte ich mir, trotz der lauten Stille, besondere Geräusche ausschneiden wie Scherenschnittpapierfiguren.
Ich arbeitete in einem Modewarenhaus als Verkäuferin und Beraterin. Diese Anstellung habe ich durch Beziehungen erhalten. Ein Freund meines Onkels kannte jemanden dort. Endlich war ich weg von zuhause, endlich konnte ich tun und lassen, was ich wollte, solange ich nur immer pünktlich zur Arbeit erschien.
Doch was sollte ich mit so viel Freiheit anfangen?
Was macht ein musikliebender Dieb, der in einen Plattenladen eingebrochen ist? Wahllos über die Platten herfallen oder gelähmt vor den Verheißungen in bunten Hüllen sitzen, nicht fähig zu einer Entscheidung? Bis sein Kumpel ruft: „Jetzt hilf mir doch mal mit der Kasse!“
Für mich hätte wohl eher Letzteres gegolten. Die Freiheit wirkte plötzlich nicht mehr so verführerisch, jetzt, da ich sie erreicht hatte. Aus der Ferne betrachtet hatte sie interessanter ausgesehen. Außerdem kannte ich mich überhaupt nicht aus. Es gab so viele Möglichkeiten, aber ich kannte sie nicht.
Wo waren die Jazz-Clubs? Wo spielten die guten Musiker, in welchen Winkeln – abgeschirmt vor den missbilligenden Blicken des Vaterlandes? Aber auch abgeschirmt vor meinem interessierten Blick, das war das Problem.
Und ich vermisste die Sterne und die Stille ... konnte man das schon Heimweh nennen?
Eines Abends saß ich in meiner kleinen Wohnung und starrte an die Wand. Da war nicht so viel zwischen meinem Blick und ihr, ich hatte noch nicht viele Möbel. Überhaupt wirkte meine Wohnung gar nicht wohnlich, sondern noch unberührt von meinem Leben. Aber was erwartete ich denn ... zu diesem Zeitpunkt war auch mein Leben noch unberührt von meinem Leben.
Vor zwei Wochen war ich in Berlin angekommen, ich war gerade neunzehn Jahre alt geworden, die Beatles und die Stones waren noch nicht dabei, die Jugend der DDR zu vergiften, und Berlin war eine ungeteilte Stadt. Noch.
Von all diesen „Nochs“, die auf der Zeit lagen wie Adlerschatten auf einem Feld, wusste ich nichts.
Ich ließ mich aufs Bett fallen und schloss die Augen, aber nach einer Weile öffnete ich sie wieder und sprang auf.
In meinem Schrank hing ein dunkelblaues Kleid mit kleinen weißen Punkten. Es reichte mir nur bis zu den Knien, zeigte Bein. Ich hatte es mir selbst genäht, aber noch nie gewagt, es zu tragen. Immer hatte ich den richtigen Zeitpunkt abwarten wollen, aber wann war der richtige Zeitpunkt? Ich hielt den kühlen Stoff an meine Wange und wartete, bis er warm wurde. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, beschloss ich schließlich und zog mir das Kleid über, fuhr mit den Händen durch meine Haare und schüttelte sie aus. Dann glitt ich in meine Schuhe, die nicht so ganz zum Kleid passten, und lief hinaus in die abendliche Stadt.
Wenn sich der Jazz nicht bemerkbar machte, würde ich ihn eben suchen.
Ich lief ohne Ziel, bog in Straßen ein, die ich noch nicht kannte. Meine Schritte waren leise. Beim Gehen schwang der Saum des Kleides um meine Kniekehlen und flüsterte Verheißungen. Das sanfte Streicheln gab mir ein Gefühl der Sicherheit, das ich noch nicht gekannt hatte.
Irgendetwas würde ich heute finden. Und wenn es nur eine Spur des Jazz war.
So in Gedanken versunken, bemerkte ich kaum, wie ich in den Westteil der Stadt gelangte. Erst als ich begann, auf die Straßennamen zu achten, wurde mir bewusst, wie weit ich gegangen war. Fasanenstraße, Pariser Straße.

...

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